Mittwoch, 7. November 2012

Baby, Geschlecht geheim

Eltern aus Toronto haben sich entschieden das Geschlecht ihres Babys "Storm" nur einem engen Kreis bekannt zu geben. Dann gab es ein Interview im Toronto Star und anfolgend einen Sturm der Entrüstung. Zu groß ist das Bedürfnis der meisten Menschen in unserer Gesellschaft das Geschlecht von Personen unmittelbar erkennen zu können. Es gibt eine Darstellungs- und Wahrnehmungspflicht des Geschlechts:
"Ein zentrales Merkmal der Geschlechtszuordnung ist die im 'moral fact' eingelassene Pflicht, die eigene Geschlechtszugehörigkeit auch sichtbar zu machen und die Geschlechtszugehörigkeit anderer 'wahrzunehmen'. Diese wechselseitige Übereinkunft, dass man ausreichend Hinweise biete, damit das Gegenüber eine 'verlässliche' Zuordnung vornehmen könne, macht Geschlecht omnipräsent in alltäglichen Situationen." (Katja Hericks, S. 59. Hericks bezieht sich hier auf Hirschauer 2001, siehe unten)
Die Entrüstung der Kritiker bringt also vor allem deren Bedürfnisse ans Tageslicht und weist nicht wirklich auf die Bedürfnisse des betroffenen Kindes hin.

Exkurs: Ein auf spezifische Weise interessantes ähnliches Phänomen beschreibt Alison Lapper über Körperbehinderte und Prothesen: Dass nämlich die Prothesen mehr für die nicht-Behinderten sind, damit sie weiterhin in ihren gewohnten Wahrnehmungsmustern Behinderte anblicken können und sich nicht mit offensichtlich fehlenden Gliedmaßen auseinandersetzen müssen.

Die äußerst lesenswerte Veröffentlichung von Stefan Hirschauers Habilitation über Transsexualität bringt folgendes Fazit den Lesenden näher: Geschlecht ist eine ernste Sache. So ernst, dass Transsexuelle für den Übergang zum anderen Geschlecht mit einem brutalen, blutigen Ritual an ihrem Körper bezahlen. Der Film "Die Haut in der ich wohne" bringt diese Tatsache auf schockierende Weise den Zuschauenden näher und das nur in einem kleinen Detail der ganzen plastischen Prozedur vom Mann zu einer Frau zu werden.
Das Geschlecht ist so wichtig, dass viele Menschen zu großen Opfern zugunsten ihrer Geschlechtsidentität bereit sind. Aus dieser Perspektive ist es ist völlig klar, dass Menschen, die versuchen sich dieser ernsten und für das eigene Lebensgefühl so grundlegenden Sache zu entziehen, damit große Irritation, Unsicherheit und auch Ablehnung bis hin zu Hass auf sich ziehen.
In einem anderen Text (Hirschauer, Stefan (2001): Geschlechtsneutralität. Zur Praxeologie einer Kategorie sozialer Ordnung. In: Heintz, B. (Hrsg.): Geschlechtersoziologie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 41. Wiesbaden, S. 208-235) macht sich Hirschauer Gedanken über mögliche zukünftige Entwicklungen, die die heutige ganz und gar grundlegende Relevanz des Geschlechts reduzieren könnten. Er hat die Idee die Feststellung des biologischen Geschlechts (das ja immer komplexer wird, je intensiver man darüber forscht) könne irgendwann ganz in den Zuständigkeitsbereich von Spezialisten und Laboren fallen. Und dass dann das biologische Geschlecht eine Angelegenheit werden könne, die ebenso intensiv dem Datenschutz unterstellt wird, wie zur Zeit schon andere medizinische Daten. Dem Normalbürger im Alltag wäre dann die Geschlechtsdifferenzierung nicht mehr sicher möglich. Das ist sie streng genommen ja heute schon nicht, aber die Menschen würden dann im vollen Bewusstsein dieser Tatsache leben: Ich sehe andere Menschen, aber ich kann nur vermuten welches Geschlecht sie haben. Viele verbinden diese Idee dann mit einer Uniformität a la KZ-Häftling (Beispiel Martenstein). Ähnliches spricht Hirschauer mit mausgrauen Bürokrat/innen an. In der Realität gibt es jedoch auch andere Erscheinungsformen dieses Phänomens: Dass Menschen aus den älteren Generationen oft bei Menschen aus den Jugend-Subkulturen das Geschlecht nicht mehr eindeutig erkennen können. Den Leuten aus den entsprechenden Subkulturen ist dies meist ohne weitetes möglich. Aber die gesamten Möglichkeiten an Erscheinungsformen und "Fassaden"-Gestaltungsformen hat für beide Geschlechter gesamtgesellschaftlich so zugenommen, dass nicht mehr allen Gesellschaftsmitgliedern alle jeweiligen geschlechtsspezifischen Erscheinungsformen bekannt sind. Vielfalt kann also die Geschlechtsdifferenz ebenso verwischen, wie Uniformität.
Seitenzahlen zu den Texten von Hirschhauer bleibe ich schuldig, bis ich den Text, bzw. mein Exzerpt wiederfinde.


Das Geschlecht seines Kindes der Öffentlichkeit vorzuenthalten ist revolutionär und mutig. Es ist sehr konsequent freiheitlich, pluralistisch und individualistisch gehandelt. Und vielleicht wird diese Praxis irgendwann ebenso akzeptiert sein, wie sein Kind nicht religiös zu initialisieren, damit es als erwachsene Person frei wählen kann, ob es religiös sein möchte und wie.


Trollkommentare werden gelöscht.
Alle Kommentare, die keinen direkten inhaltlichen Bezug zum Post haben, werden nicht veröffentlicht.
Dieser blog ist nicht der Ort für Grundsatzdiskussionen zu biologischen Determinismen von Geschlecht, zur Sinnhaftigkeit verschiedener Forschungsansätze oder des Feminismus.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen