Mittwoch, 14. November 2012

Goffman: Geschlechtsklassen

"In allen Gesellschaften werden Kleinkinder bei ihrer Geburt der einen oder anderen Geschlechtsklasse zugeordnet, wobei diese Zuordnung durch das Ansehen des nackten Kinderkörpers, insbesondere der sichtlich dimorphen Genitalien geschieht - eine Zuordnugspraxis, die derjenigen ähnelt, die bei Haustieren vorgenommen wird. Diese Zuordnung aufgrund der körperlichen Gestalt erlaubt die Verleihung einer an das Geschlecht gebundenen Identifikationskette. (...) In den verschiedenen Phasen des individuellen Wachstums wird diese Klassifizierung durch Kategorien für weitere körperliche Anzeichen bestätigt, von denen einige dem allgemeinen Wissensbestand angehören, andere (wenigstens in modernen Gesellschaften) von den Wissenschaften entwickelt wurden und beispielsweise als Chromosomen, Gonaden und Hormone bezeichnet werden. Jedenfalls betrifft die Einordnung in die Geschlechtsklassen fast ausnahmlos die gesamte Population und beansprucht lebenslange Geltung. Somit liefert sie ein Musterbeispiel, wenn nicht sogar den Prototyp einer sozialen Klassifikation. Zudem scheint uns in modernen Gesellschaften die soziale Einteilung in Frauen und Männer in völligem und getreuem Einklang mit unserem 'biologischen Erbe' zu stehen und kann daher unter keinen Umständen verleugnet werden. Wir haben es mit einer einzigartigen Übereinstimmung zwischen dem unmittelbaren Verständnis der einfachen Leute und den Erkenntnissen aus Forschungslaboratorien zu tun. (...)
Ich möchte deshalb wiederholen, daß ich unter dem Begriff Geschlechtsklasse ('sex class') eine rein soziologische Kategorie verstehe, die sich allein auf diese Disziplin und nicht auf die Biowissenschaften bezieht." (S. 107 ff.)
In diesem zugegeben sehr langen Zitat finden sich eine Menge zentrale Punkte:
  • Die Zuordnung des Geschlechts erfolgt direkt nach der Geburt durch die Betrachtung des nackten Kinderkörpers und wird anhand der sichtbaren Genitalien vorgenommen. Heute, das beschrieb ich schon mal hier, wir die Geschlechtszuordnung ja bereits häufig vor der Geburt betrieben. So weit es jedoch ausschließlich per Sonografie geschieht, erlangt erst der Blick auf das nackte Neugeborene zu einer rechtsgültigen und endgültigen Klassifikation. Es gibt immer wieder Fälle, wo die Diagnose der Sonografie falsch war. Hat man anhand von Biopsiematerial eine Genanalyse während der Schwangerschaft durchführen lassen, so wird diese Genanalyse wahrscheinlich mehr Gültigkeit besitzen, als der Blick auf das Neugeborene. Solche Möglichkeiten gab es für die breite Bevölkerung noch nicht, als der Artikel entstand. Goffman merkt dennoch in einer Fußnote an, dass es bei der Zuordnung zur Geschlechtsklasse auch Abweichungen von der Regel geben kann, aber er betont hierbei handle es sich um Ausnahmen und fügt an, dass "die Zuordnung zu einer Geschlechtskategorie im Vergleich zu allen anderen Zuordnungen sehr streng vollzogen wird." (S.108). Ein Beispiel für die Richtigkeit dieser Annahme sind die immensen Auflagen, denen Transsexuelle unterliegen, wenn sie ihr Geschlecht im Personalausweis ändern wollen, um so 'offiziell' dem anderen Geschlecht anzugehören. Das deutsche Recht sieht vor, dass der zu vergebende Vorname geschlechtseindeutig ist.
  • Ich muss immer wieder schmunzeln, wenn ich lesen, wie Goffman darauf verweist, dass die Zuordnung zur Geschlechtsklasse bei Haustieren (damit sind aller Wahrscheinlichkeit alle domestizierten Tiere, also auch Nutztiere und nicht nur Heimtiere gemeint, siehe hier) ganz ähnlich ist. Es handelt sich hierbei wohl um eine jahrtausendealte und sehr pragmatische Tradition. Wir Menschen sind eben auch Tiere.
  • In diesem Abschnitt grenzt sich Goffman mit großer Deutlichkeit vom biologischen Geschlecht ab. Die Behandlung des biologischen Geschlechts überlässt er den Biowissenschaften. Ihn interessiert die soziale Klassifikation und deren Folgen. Hier bestätigt er nochmals, was er im vorigen Abschnitt bereits andeutete.
  • Die soziale Klassifikation in Männer und Frauen ist sehr basal und wird äußerst konsequent und streng betrieben. Es ist damit wirklich ein Musterbeispiel für eine Klasse. Und es ist auch (bisher)  nicht möglich außerhalb dieser Klassifikation zu leben. Die Ernsthaftigkeit mit der die Geschlechtsklassifikation betrieben wird, trägt wahrscheinlich maßgeblich dazu bei deren allgegenwärtige und meist völlig unhinterfragte Selbstverständlichkeit im Alltag zu sichern: Sie fühlt sich an wie unser 'biologisches Erbe', wie etwas vollkommen Vor-gesellschaftliches.
  • Die Tatsache, dass Alltagsverstand und Wissenschaft sich die Geschlechtseinteilung ganz unkritisch teilen, lässt Goffman, so interpretiere ich das, skeptisch werden.

Mittwoch, 7. November 2012

Baby, Geschlecht geheim

Eltern aus Toronto haben sich entschieden das Geschlecht ihres Babys "Storm" nur einem engen Kreis bekannt zu geben. Dann gab es ein Interview im Toronto Star und anfolgend einen Sturm der Entrüstung. Zu groß ist das Bedürfnis der meisten Menschen in unserer Gesellschaft das Geschlecht von Personen unmittelbar erkennen zu können. Es gibt eine Darstellungs- und Wahrnehmungspflicht des Geschlechts:
"Ein zentrales Merkmal der Geschlechtszuordnung ist die im 'moral fact' eingelassene Pflicht, die eigene Geschlechtszugehörigkeit auch sichtbar zu machen und die Geschlechtszugehörigkeit anderer 'wahrzunehmen'. Diese wechselseitige Übereinkunft, dass man ausreichend Hinweise biete, damit das Gegenüber eine 'verlässliche' Zuordnung vornehmen könne, macht Geschlecht omnipräsent in alltäglichen Situationen." (Katja Hericks, S. 59. Hericks bezieht sich hier auf Hirschauer 2001, siehe unten)
Die Entrüstung der Kritiker bringt also vor allem deren Bedürfnisse ans Tageslicht und weist nicht wirklich auf die Bedürfnisse des betroffenen Kindes hin.

Exkurs: Ein auf spezifische Weise interessantes ähnliches Phänomen beschreibt Alison Lapper über Körperbehinderte und Prothesen: Dass nämlich die Prothesen mehr für die nicht-Behinderten sind, damit sie weiterhin in ihren gewohnten Wahrnehmungsmustern Behinderte anblicken können und sich nicht mit offensichtlich fehlenden Gliedmaßen auseinandersetzen müssen.

Die äußerst lesenswerte Veröffentlichung von Stefan Hirschauers Habilitation über Transsexualität bringt folgendes Fazit den Lesenden näher: Geschlecht ist eine ernste Sache. So ernst, dass Transsexuelle für den Übergang zum anderen Geschlecht mit einem brutalen, blutigen Ritual an ihrem Körper bezahlen. Der Film "Die Haut in der ich wohne" bringt diese Tatsache auf schockierende Weise den Zuschauenden näher und das nur in einem kleinen Detail der ganzen plastischen Prozedur vom Mann zu einer Frau zu werden.
Das Geschlecht ist so wichtig, dass viele Menschen zu großen Opfern zugunsten ihrer Geschlechtsidentität bereit sind. Aus dieser Perspektive ist es ist völlig klar, dass Menschen, die versuchen sich dieser ernsten und für das eigene Lebensgefühl so grundlegenden Sache zu entziehen, damit große Irritation, Unsicherheit und auch Ablehnung bis hin zu Hass auf sich ziehen.
In einem anderen Text (Hirschauer, Stefan (2001): Geschlechtsneutralität. Zur Praxeologie einer Kategorie sozialer Ordnung. In: Heintz, B. (Hrsg.): Geschlechtersoziologie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 41. Wiesbaden, S. 208-235) macht sich Hirschauer Gedanken über mögliche zukünftige Entwicklungen, die die heutige ganz und gar grundlegende Relevanz des Geschlechts reduzieren könnten. Er hat die Idee die Feststellung des biologischen Geschlechts (das ja immer komplexer wird, je intensiver man darüber forscht) könne irgendwann ganz in den Zuständigkeitsbereich von Spezialisten und Laboren fallen. Und dass dann das biologische Geschlecht eine Angelegenheit werden könne, die ebenso intensiv dem Datenschutz unterstellt wird, wie zur Zeit schon andere medizinische Daten. Dem Normalbürger im Alltag wäre dann die Geschlechtsdifferenzierung nicht mehr sicher möglich. Das ist sie streng genommen ja heute schon nicht, aber die Menschen würden dann im vollen Bewusstsein dieser Tatsache leben: Ich sehe andere Menschen, aber ich kann nur vermuten welches Geschlecht sie haben. Viele verbinden diese Idee dann mit einer Uniformität a la KZ-Häftling (Beispiel Martenstein). Ähnliches spricht Hirschauer mit mausgrauen Bürokrat/innen an. In der Realität gibt es jedoch auch andere Erscheinungsformen dieses Phänomens: Dass Menschen aus den älteren Generationen oft bei Menschen aus den Jugend-Subkulturen das Geschlecht nicht mehr eindeutig erkennen können. Den Leuten aus den entsprechenden Subkulturen ist dies meist ohne weitetes möglich. Aber die gesamten Möglichkeiten an Erscheinungsformen und "Fassaden"-Gestaltungsformen hat für beide Geschlechter gesamtgesellschaftlich so zugenommen, dass nicht mehr allen Gesellschaftsmitgliedern alle jeweiligen geschlechtsspezifischen Erscheinungsformen bekannt sind. Vielfalt kann also die Geschlechtsdifferenz ebenso verwischen, wie Uniformität.
Seitenzahlen zu den Texten von Hirschhauer bleibe ich schuldig, bis ich den Text, bzw. mein Exzerpt wiederfinde.


Das Geschlecht seines Kindes der Öffentlichkeit vorzuenthalten ist revolutionär und mutig. Es ist sehr konsequent freiheitlich, pluralistisch und individualistisch gehandelt. Und vielleicht wird diese Praxis irgendwann ebenso akzeptiert sein, wie sein Kind nicht religiös zu initialisieren, damit es als erwachsene Person frei wählen kann, ob es religiös sein möchte und wie.


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Dieser blog ist nicht der Ort für Grundsatzdiskussionen zu biologischen Determinismen von Geschlecht, zur Sinnhaftigkeit verschiedener Forschungsansätze oder des Feminismus.