Freitag, 31. August 2012

0-6 Monate, Teil II

Die erste Zeit nach der Geburt bot außer Benennung und Ausstattung wenig Raum für Doing Gender am Kind. Zuschreibungen fanden nur selten statt. Die wenigen Momente seien im Folgenden notiert:

  • Eine Verwandte äußerte folgenden Satz: "Du hast ja einen Jungsschnuller." Der Schnuller war rot und hatte ein Rennauto aufgedruckt.
  • In der Krabbelgruppe sagte die Leiterin zum Thema Einführung von Breikost: "Mädchen wollen selbst essen.", als ich erwähnte, dass mein Baby den Löffel lieber selbst in den Mund stecken wollte.
  • Als ich die Benachrichtigung einer Freundin über die Geburt ihres Kindes erhielt, fiel mir auf, dass ich selbst in meinen Benachrichtigungen geschrieben hatte "unsere Tochter", statt die neutrale Variante "unser Kind" zu wählen, wie jene Freundin.
  • Im Buch "Oje, ich wachse" wird das Geschlecht einige Male thematisiert, also die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Babys. Dafür werde ich beizeiten einen eigenen Post einrichten.

Dienstag, 28. August 2012

0-6 Monate, Teil I

Ich habe diesen Blog bereits vor der Geburt meines Kindes geplant, jedoch bin ich in Verlaufe der ersten sechs Monate nicht zum posten gekommen. Da ich jedoch das Vorhaben stets im Hinterkopf hatte, habe ich mich während dieser Zeit darauf konzentriert mir erwähnenswerte Vorfälle zu merken.

Da wir das Geschlecht des Kindes ja nicht durch pränatale Sonographie erfahren wollten, wurden wir bei der Geburt mit dem klassischen Satz konfrontiert: "Es ist ein Mädchen." Diese Diagnose kam sehr schnell unmittelbar nach dem das Kind herausoperiert war. (Wegen eines Beckenquerstandes war ein Kaiserschnitt notwendig geworden.)

Der erste Schritt zum Geschlecht ist der Vorname. Wir waren insgeheim erleichtert, dass unser Kind ein Mädchen geworden war, denn da sie drei Wochen vor dem errechneten Termin kam, waren wir durchaus mit der Namenswahl noch nicht fertig. Der Mädchenname stand bereits seit Jahren fest, doch auf einen Jungennamen hatten wir uns noch nicht einigen können. Aber es wurde selbstverständlich vorausgesetzt, dass wir einen Namen parat haben. Der Vorname wurde uns unmittelbar nach der U1 von der Hebamme abverlangt. Er muss ins System eingegeben werden. Mein Mann schrieb den Namen auf ein rosafarbenes Bändchen, dass dem Baby ans Handgelenk gebunden wurde. Weiterhin wurde der Vor- und Nachname, das Geburtsdatum mit Zeitangabe und Geburtsgröße und -gewicht auf einem kleinen Pappschild in Teddybärenform notiert, das an ihrem Stubenwagen mit einem rosafarbenen Band befestigt wurde. Auf die Art befindet sich ein Zeichen für das Geschlecht des Kindes direkt am Bett und ist auf den ersten Blick sichtbar für alle, die um das Pappbärchen wissen. Das Armbändchen steckt in aller Regel unter dem Ärmel und ist damit nicht sofort sichtbar. Aber so wird sichergestellt, dass keine Kinder verwechselt werden.

In der Folge fiel mir in der Klinik nicht auf, dass durch das Personal auf das Geschlecht ein besonderer Bezug genommen wurde. Im Gegenteil sprach man häufig von "Ihrem Kind".

Meine Schwiegermutter hatte während der Schwangerschaft in einer relativ bemerkenswerten Situation geträumt, dass ich Drillinge gebären würde, drei Jungen. Die Überzeugung, dass wir einen Jungen bekommen würden, wurde im näheren Umfeld recht häufig vertreten und durch diesen Traum weiter zementiert. Nun war es doch ein Mädchen. Ich selbst hatte mich in der Schwangerschaft sehr darauf konzentriert mich auf kein Geschlecht irgendwie einzustellen und völlig offen zu bleiben, hatte jedoch mein Umfeld manchmal dazu motiviert über das Geschlecht des Kindes Spekulationen anzustellen.

  • Die Familie meines Mannes glaubte eher an einen Jungen, weil Jungen jetzt "dran sind". Etwa nach der Logik, dass Mädchen jetzt ausverkauft sind, oder so. Die vorigen Enkelkinder waren Mädchen geworden.
  • Meine Schwester tendierte ebenfalls zum Glauben, dass es ein Junge ist aus einem eher unspezifischen Gefühl heraus.
  • Kollegen glaubten, es werde ein Junge, weil man das an meinem Verhalten merken könne: Mit Jungen Schwangere seien entspannter, als mit Mädchen Schwangere. Und ich käme extrem entspannt rüber. Dafür, dass ich mich selbst als einen Menschen empfinde, der sich recht viele Sorgen macht, wirke ich auf andere häufig ziemlich entspannt.
  • Mein Mann glaubte es werde ein Mädchen, weil in einem Schwangerschaftsbuch stand, dass Frauen die wenig Hunger verspüren und karg bis gar nicht frühstücken zu 25 % häufiger Mädchen gebären, als Frauen mit gutem Appetit und üppigem Frühstück. Ich bin ein echter Frühstücksmuffel und allgemein kein guter Esser. Ich mache jedoch nie Diäten und esse grundsätzlich keine kalorienreduzierten Produkte. Ich muss zu dieser Statistik sagen, dass dies schon eine recht seltsame Auswertung des Datenmaterials ist. Wie kommt man auf die Idee nach solchen Kriterien auszuwerten? Es liegt aber eventuell nicht so fern, dass sich die verfügbare Nahrungsmenge auf das Geschlecht auswirkt, ich glaube es gibt quantitative Auswertungen dazu, die ich mal recherchieren müsste. 
In den folgenden Monaten bekamen wir eine Reihe von Kleidungsstücken geschenk, die in aller Regel eindeutige Anzeichen dafür trugen, dass sie für Mädchen gedacht sind. Oft waren es Kleidchen, sie waren rosa oder rot, hatten Rüschen. Meine Mutter hatte vor der Geburt neutrale Strampler gekauft, danach kamen jedoch von ihr ausschließlich Mädchenkleidungsstücke. Von meiner Schwiegermutter kam danach ein geschlechtsneutrales Set und drei für Mädchen.

Da wir jedoch einige Babyklamotten von einem Jungen "geerbt" hatten und zuvor selbst einige, wie wir fanden, geschlechtsneutrale Kleidungsstücke gekauft hatten, konnten wir in der Folge das ganze Spektrum abbilden: eindeutig Mädchen, eindeutig Junge und geschlechtsneutral. Ich habe dabei festgestellt, dass unser Kind, auch wenn es meiner Meinung nach geschlechtsneutral gekleidet war, meistens als Junge wahrgenommen wurde. Die Menschen suchen das Baby recht eilig nach eindeutigen Anzeichen für das Geschlecht ab und anscheinend wird dabei ein großes Farbspektrum als männlich wahrgenommen: nämlich außer den rosa- lila -rot-Tönen alle anderen Farben. Ein dunkelblauer Strampler kombiniert mit einer rosafarbenen Mütze brachte die Menschen wirklich in Schwierigkeiten und führte häufig dazu, dass sie das Geschlecht nachfragten. War eine schnelle Entscheidung von Nöten, dann galt der dunkelblaue Strampler in mehreren Fällen mehr, als die rosafarbene Mütze. Für eine wahre Anektdote sorgte dabei mein Hals-Nasen-Ohren-Arzt, der über mein Baby fortwährend als "er" sprach, obwohl sie ein rosa-lila-farbenes Kleidchen trug. Ich zuckte mit keiner Wimper und nach einiger Zeit fragte er nach, welches Geschlecht das Kind habe. Ich antwortete wahrheitsgemäß und danach fiel ihm auch die weibliche Kleidung auf. Er musste sich jedoch im weiteren Sprechen sichtlich darauf konzentriere über das Kind als "sie" zu sprechen.

Schwangerschaft

Die Zeit der Schwangerschaft ist für die Eltern eine Zeit, in der Äonen von neuen Doing Gender Praktiken aufgetan werden können. Es gibt wohl wenig Zustände, die weiblicher sind, als eine Schwangerschaft. Es ist auch allenthalben eine gesicherte Erkenntnis, dass viele Paare, auch wenn zuvor egalitär organisiert, zu einer traditionelleren Rollenverteilung zurückfinden, sobald sie Kinder haben.
Ich will mich jedoch in diesem Blog jedoch nicht mit vorrangig mit dem Doing Gender von Erwachsenen beschäftigen, sondern damit, wie Kinder durch die Behandlung von Erwachsenen und anderen Kindern von frühester Kindheit an durch Doing Gender geprägt werden. Da dies zumindest vorerst eher unsystematisch in Tagebuchform geschieht, konzentriere ich mich dabei in erster Linie auf sprachliche Interaktionen, die besonders augefällige Formen von Doing Gender darstellen. Im Laufe der Zeit mag die Dokumentation subtiler werden und verschiedene Dimensionen des Doing Gender in der Biografie meines Kindes und ggf. meiner zukünftigen Kinder aufnehmen.

Die Schwangerschaft wäre eigentlich nicht unbedingt eine Zeit gewesen, die besondere Erwähnung verdiente. Allerdings las ich kürzlich einen Artikel, der meine Meinung diesbezüglich änderte:
http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/50910
Die Epigenetik, ein Bereich mit dem ich mich nicht gut auskenne, entwickelt sich als, wenn ich hier meine wenigen Kenntnisse zusammenfasse, zu folgenden Zeitpunkten:

  1. Während der Entstehung der Eizellen beim Fötus im Mutterleib.
  2. Während der ersten Produktion von Spermien bei Jungen während des Eintritts der Pubertät.
  3. Während der Schwangerschaft im Fötus.
  4. Im Laufe des Lebens.
Wer hierzu etwas anderes oder differenzierteres beitragen kann, der möge entsprechende Quellen gern im Kommentar posten.
Der Artikel nennt eine neue Studie, die aufgezeigt hat, dass die Epigenetik bei eineiigen Zwillingen unterschiedlich ist. Sie wissen nicht wie diese Unterschiede zustande kommen. Im Radio hörte ich einen Genetiker darüber spekulieren, ob die Lage und Position im Mutterleib u.U. Einfluss haben möge.
Durch die Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik, insbesondere der Sonografie, sind die meisten Eltern in der Lage das Geschlecht ihres Kindes lange vor der Geburt mit relativ großer Sicherheit zu kennen. Eine Nabelschnurbiopsie und ähnliche invasive Verfahren machen die Untersuchung der kindlichen Gene möglich und damit eine eindeutige Geschlechtsbestimmung. Allerdings sind diese Verfahren wesentlich seltener, als die Sonografie. Es ist also durchaus möglich, dass sich werdende Mütter unterschiedlich verhalten, je nach dem, ob sie ein Mädchen oder einen Jungen erwarten. Die Unterschiede wären, wenn sie denn bestünden, wahrscheinlich von Person zu Person unterschiedlich und nur sehr schwer empirisch zu erfassen. Da es jedoch etliche Hinweise darauf gibt, dass Mütter mit ihren weiblichen Säuglingen mehr sprechen, wäre es eine nicht ganz von der Hand zu weisende Hypothese, dass auch werdende Mütter mehr mit dem Kind in ihrem Mutterleib sprechen, wenn sie erwarten, dass es ein Mädchen wird. Für die Sprachentwicklung ist es, so wurde inzwischen nachgewiesen, relativ wichtig, dass die Kinder schon vor der Geburt ihre Muttersprache hören, es ist also positiv für die Sprachentwicklung, wenn die Mutter und ihre Umwelt viel spricht. Hierdurch werden entsprechende Bereiche im Gehirn frühzeitig stimuliert. Ob da das Sprechen mit dem Ungeborenen einen entscheidenden Unterschied machen kann, ist fraglich, aber in Einzelfällen ggf. nicht ausgeschlossen, etwa wenn die Mutter sich in einer spracharmen Umgebung befindet und selbst auch eher wenig spricht. Dann könnte die zusätzliche Stimulation auf Grund der Erwartung, dass der Fötus weiblich ist, einen gewissen Ausschlag geben. Dies ist jedoch alles vollkommen hypothetisch, aber ich erwähne es hier, um den Möglichkeitsraum wenigstens anzudeuten.

Während meiner Schwangerschaft war es unser beider elterlicher Wunsch über das Geschlecht des Kindes nicht aufgeklärt zu werden. Daher kann ich noch weniger beurteilen, ob das Wissen über das Geschlecht mein Verhalten beeinflussen könnte. Die Reaktionen meiner Umwelt waren jedoch sehr interessant.
  • Mehrmals wurde angedeutet, dass das Einkaufen für das Kind "unmöglich" sei, wenn mir das Geschlecht nicht bekannt wäre. In aller Regel wies ich dann darauf hin, dass es neben rosa und hellblau auch noch andere Farben im Farbspektrum zur Verfügung stehen. In einem Fall antwortete sogar jemand: "Stimmt, wir haben unsere Tochter nach der Geburt auch nur in weiß gekleidet.". Er hatte also sogar sein eigenes geschlechtsneutrales Verhalten vergessen, obwohl sein Kind erst wenige Jahre alt ist. Diese Reaktion beschränkte sich jedoch mehr auf Personen, zu denen wir einen eher oberflächlichen Kontakt pflegten.
  • Auf professioneller Seite wurde diese Entscheidung rundheraus ohne jede Diskussion akzeptiert. Die in der Schwangerschaft betreuende Hebamme erwähnte, dass ihrer Erfahrung nach die meisten Eltern das Geschlecht wissen wollen, nur Hebammen wollen dies in der Regel nicht und "besondere Paare". Die gynäkologische Spezialistin, die bei mir die Ersttrimesteruntersuchung durchführte, zeigte sich dankbar darüber, dass ich das Geschlecht nicht wissen wolle. In aller Regel, erklärte sie mir, wollten die Eltern von ihr das Geschlecht wissen und zu diesen Zeitpunkt sei es noch nicht so eindeutig erkennbar, wie später. Daher sei sie über alle Eltern froh, die es nicht wissen wollen, weil die meisten Eltern von Zweifeln nicht wissen wollen und sehr ungehalten reagieren, wenn sie sich vertut. Später sprach ich mit einer Freundin darüber, die verärgert darüber war, dass diese Spezialistin ihr diese Informationen nicht gegeben habe, sondern nur konstatiert habe, es werde ein Mädchen. Spätere Untersuchungen hatten dann auf einen Jungen hingedeutet und so war es dann auch.
  • Einige Personen mit denen wir intensiven Kontakt pflegten, vermuteten dass wir insgeheim über das Geschlecht des Kindes bescheid wüssten und diese Information nur für uns behalten würden.
  • Einige Personen, mit denen wir intensiv Kontakt pflegten, machten sich Gedanken darüber, welches Geschlecht das Kind haben könnte: Meine Schwiegereltern, meine Schwester und einige meiner Arbeitskollegen glaubten, dass es ein Junge werden würde. Diese Meinung wurde von einigen anderen geteilt, nur mein Mann war der Überzeugung es würde ein Mädchen werden.
  • Zwei Personen waren der Ansicht, dass es uns im Verlaufe der sonografischen Untersuchungen unmöglich sein werde das Geschlecht des Kindes nicht zu kennen, da es zu offensichtlich werde. Dieses Problem hatte ich nicht. Mein Mann behauptet im Nachhinein was anderes. Zugegebener Maßen hatte er auch immer eine bessere Aussicht auf den Bildschirm. Andererseits wies die Gynäkologin mehrfach darauf hin, dass das Kind zur Geschlechtsbestimmung sowieso eine ungünstige Position einnehme.
  • Nach der Geburt zeigte sich, dass meine Schwiegereltern, mein Vater bzw. seine Freundin und die Mutter eines Freundes mit dem Kauf des Babygeschenks gewartet haben bis nach der Geburt, damit geschlechtsspezifische Kleidung möglich wurde. Die Tatsache, dass die Geburt drei Wochen vor dem errechneten Termin stattfand, spielte hier jedoch den Protagonisten in die Hände. Meine Mutter hatte darauf verzichtet und vor der Geburt neutrale Kleidung gekauft.
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Dieser blog ist nicht der Ort für Grundsatzdiskussionen zu biologischen Determinismen von Geschlecht, zur Sinnhaftigkeit verschiedener Forschungsansätze oder des Feminismus.