Donnerstag, 13. Dezember 2012

Sättigung?

In der letzten Zeit war ich des Bloggens etwas müde. Ich vermute, dass es unter anderem daran liegt, dass zur Zeit eine gewisse Sättigung in meinem Erkenntniszugewinn vorliegt. Babys in dem Alter geben einem hauptsächlich drei Möglichkeiten mit Doing Gender auf sie zu reagieren:

  1. Man kann ihre 'Fassade' geschlechtsstereotyp gestalten (ob dies Doing Gender ist, werde ich an anderer Stelle diskutieren). So gut wie alle Menschen erwarten heutzutage, dass auch bei Babys das Geschlecht auf den ersten Blick zu erkennen ist. Dabei gilt die Formel, dass alle Rottöne (rosa, rot bis lila) und gewisse Applikationen, wie etwa Spitze, sowie gewisse Motive, wie etwa Blümchen, einen Hinweis auf Weiblichkeit geben. Das bedeutet weiterhin, dass alle anderen Farben, so auch grün und gelb, ohne additive weibliche Hinweise, als männlich wahrgenommen werden.
    Eine Begebenheit beim Spaziergang verdeutlichte mir, wie zügig die Menschen weibliche Details erkennen können. Emma saß in ihrem grauschwarzen Kinderwagen und trug eine dunkelblaue Jacke. Eine fremde Frau, mit der ich eine kurze Unterhaltung führte, war sofort in der Lage sie als Mädchen zu identifizieren, weil das Innenfutter der Kapuze aus fliederfarbenem Teddystoff besteht, der in einer Borte die Außenseite der Kapuze umrandet. Eine andere Frau, der wir beim Einkaufen von Babykleidung mehrmals begegneten, sagte zu mir meine Tochter sei wohl eher ein 'Tomboy', weil sie Emma in dem hellbraunen Teddyanzug für einen Jungen gehalten hatte und ihr wahres Geschlecht 'erkannte', als ich ihr eine lilafarbene Jacke anprobierte. Weiß erscheint mir die einzige weitere Farbe, die auch verstärkt weiblich konnotiert ist bei Babykleidung. Die weiblichen Teddy-Anzüge etwa, die ich im Internet gefunden habe, waren oft weiß, die männlichen beige.
    Weiterhin ist mir aufgefallen, dass so gut wie alle Eltern und Großeltern, mit denen ich darüber sprach, diese geschlechtsdifferenzierte Babykleidung mögen und 'süß' finden. Bei amazon und ebay ist es teilweise (!) möglich explizit nach geschlechtsneutraler Babykleidung zu suchen. Es gibt natürlich auch gewisse Basics, die häufig geschlechtsneutral sind, wie etwa Bodys. Aber dennoch sind mir bislang nur in Ausnahmefällen geschlechtsneutral gekleidete weibliche Babys aufgefallen. Da das Spektrum für Jungen so breit ist, könnte man hier öfter mal sagen: "Naja, das könnte ja auch ein Mädchen tragen." Aber so wirkt die Erkennbarkeit bei männlichen Babys im Vermeiden von weiblichen Farben, Motiven, Applikationen und Accesoires und die Erkennbarkeit von weiblichen Babys genau umgekehrt im Verwenden ebendieser. Das scheint auf das Prinzip der Sonderstellung des Weiblichen und der Neutralität des Männlichen hinzuweisen. Ich würde spontan annehmen, dass dies bei der Kleidung für Erwachsene nicht mehr so ist. Wobei auch hier Männer meistens alle Zeichen von Weiblichkeit an ihrer Kleidung vermeiden. Aber Frauen steht ein weites Spektrum an Farben und Formen zur Verfügung. Dies ist wahrscheinlich darin begründet, dass Erwachsene durch die Gestaltung ihres unmittelbaren Körpers bereits vielfach recht eindeutig ihr Geschlecht kommunizieren. Jetzt auch mal abgesehen von Frisur und Schminke, hat ein erwachsener Mensch die Körpersprache und Mimik seines Geschlechts meist derart verinnerlicht, dass immenses Training notwendig ist, will man erfolgreich das andere Geschlecht vortäuschen. Dies fehlt bei Babys komplett und deswegen MUSS die Erkennbarkeit des Geschlechts durch die Kleidung übermittelt werden.
  2. Die Interpretation des Verhaltens von Babys. Weint ein Baby, wird dies häufig als weibliches Verhalten gedeutet. Ich kann hier leider nur auf Vorfälle in der Krabbelgruppe zurückgreifen. Jedoch wurde kleinen Mädchen mehrfach bescheinigt, wie ein 'richtiges Mädchen' zu weinen und kleinen Jungen 'wie ein Mädchen' zu weinen. Aktives und erkundendes Verhalten wurde häufig als typisch für Jungen gedeutet. Bei Mädchen wird das gleiche Verhalten unkommentiert belassen. Schüchternheit dagegen wird bei Mädchen als weibliches Verhalten expliziert. Auch hier verfüge ich nur über Erfahrungen in der Krabbelgruppe.
  3. Verhalten in der Interaktion mit dem Baby. Und jetzt kommt der große Knackpunkt. Wie soll ich wissen, ob die Art wie wir mit den Babys umgehen geschlechtsspezifisch unterschiedlich ist? Wird ein Mädchen eher getröstet, wenn es weint? Wird ein Junge mehr ermuntert, seine Umwelt zu erkunden? Das größte Problem daran ist die IMMENSE Spannbreite des individuellen Verhaltens. Sowohl wir als Eltern verhalten uns per se alle sehr unterschiedlich, als auch dass wir auf jedes Kind unabhängig vom Geschlecht bereits unterschiedlich reagieren. Hier kann also geschlechtsspezifischer Umgang mit dem Kind eigentlich nur erkannt werden, wenn es verbalisiert wird. Aber selbst diesen Verbalisierungen ist nicht zu trauen. Auch Introspektion hilft kaum weiter, weil ich ja als Elternteil nur eine begrenzte Zahl von Kindern groß ziehe, die ich alle als sehr individuell wahrnehme. Ich bin da ja wahrscheinlich sogar als gendersensibilisierter Mensch mehr als genug blinden Flecken unterlegen. Dies ist wohl leider ein Bereich, und zwar ein ausnehmend bedeutender, der der Feldforschung  vorenthalten bleibt. Man bräuchte wirklich ganz andere Mittel, wenn man das Phänomen der Geschlechtssozialisation empirisch qualitativ wie quantitativ sauber erforschen möchte.
Wie eine sozialwissenschaftliche Forschung aussehen müsste, die den Punkt 3 einigermaßen valide bearbeitet, möchte ich hier einmal kurz skizzieren:
  • In einer intensiven Vorbereitungsphase müsste man sowohl theoretisch, wie auch qualitativ-empirisch herausarbeiten, welche bedeutenden für die Geschlechtsdifferenz relevanten Verhaltensweisen und Reaktionen Eltern gegenüber ihren Kindern zeigen können. Etwa: Das Baby beginnt zu weinen, wie lange wartet die Betreuungsperson, bis sie zum Baby geht und was tut sie dann? Allein bei dieser recht einfach erscheinenden Frage gibt es viele Variablen zu beachten: Man müsste z.B. unterschiedliche Arten von Weinen und Schreien von Babys ausmachen und dies empirisch objektivierbar machen. Man müsste einen Katalog an relevanten Verhaltensweisen plus dazugehörige Beobachtungsschemata zur Einordnung der Verhaltensweisen ausarbeiten.
  • In einer groß angelegten empirischen Phase müsste man dann Elternverhalten audiovisuell dokumentieren und zwar in den Bereichen: Privat (z.B. zuhause, zu Besuch bei Verwandten), halböffentlich (z.B. Krabbelgruppe, Babyschwimmen) und öffentlich (z.B. Spielplatz, Ladenlokale). Die größte Validität würde sich durch eine Panelanalyse ergeben, das bedeutet, dass die selben Eltern über einen längeren Zeitraum, sagen wir mal für die ersten vier Lebensjahre des zur Studie gewählten Kindes, immer wieder aufgezeichnet werden in der Interaktion mit ihrem Kind.
  • Parallel dazu wäre es sinnvoll, die Eltern zu befragen, nicht nur für die Erfassung der sozioökonomischen Labels, sondern auch um Besonderheiten der aktuellen Lebenslage zu erfassen, etwa entstandene Stressoren.
  • Die Gruppe der Teilnehmenden müsste im besten Fall randomisiert ausgewählt werden und mehrere Tausend Zielkinder in der Interaktion mit ihren Eltern umfassen. (Eine Drop-out-Analyse derjenigen, die sich weigern an der Studie teilzunehmen, wäre unbedingt von Nöten.) Sollte eine randomisierte Auswahl nicht möglich sein (was bereits der Fall ist, wenn die Teilnehmerzahl zu klein ist), müsste man versuchen einen möglichst breiten Zugang zu finden, sowohl geografisch, wie auch sozioökonomisch/ milieudifferenziert. 
  • Dieses audiovisuelle Material müsste dann entsprechend des Katalogs und der Beobachtungsschemata von zwei unabhängigen Personen einsortiert werden, strittige Fälle würden einer Supervision unterzogen.
  • Die dadurch entstehenden Daten kann man dann mit den entsprechenden Formeln durchrechnen.
  • Weiterhin wäre es sinnvoll, das audiovisuelle Material zum Teil auch einer ergebnisoffenen und freien Interpretation zugänglich zu machen (bspw. alle Szenen, die in die Supervision aufgenommen wurden, sowie einige stichprobenartige Szenen), um so eventuell entstandene Erkenntnislücken des Katalogs und der Beobachtungsschemata zu finden. Dies würde sicherlich die laufende Überarbeitung des Katalogs und der Beobachtungsschemata notwendig machen, was bedeutet, dass das Material, das bereits bearbeitet wurde, unter Umständen erneut gesichtet werden müsste.
  • Es wäre auch denkbar bestimmte, als Schlüsselszenen ausgemachte Abschnitte des Materials mit den Eltern gemeinsam anzuschauen und sie dazu zu befragen, um zusätzliche introspektive Informationen zu bekommen.
Ich denke jeder Leserin, jedem Leser dürfte klar sein, dass ein solches Forschungsunterfangen nicht nur extrem kostenintensiv wäre, sondern auch forschungspraktisch vor zahllosen, kaum überwindbaren Hindernissen stünde. Welche Eltern würden schon zulassen, dass man in ihren Privaträumen eine Videoüberwachung installiert? Weiterhin müsste man mit vielen empirischen Effekten rechnen, etwa Beobachtungseffekten und eine Sensibilisierung mancher Eltern auf das Thema, die sonst nicht eingetreten wäre, etc.
Ein weiteres Problem möchte ich anhand eines Beispiels aus meinem eigenen Leben kurz schildern:
Als ich im Grundschulalter war, da wünschte ich mir einen Chemiebaukasten. Wenn meine Eltern mich fragten, was ich zum Geburtstag oder zu Weihnachten haben wolle, äußerte ich regelmäßig diesen Wunsch. Er wurde mir jedoch nie erfüllt. Mehrmals fragte ich meine Eltern, warum sie sich weigerten mir einen Chemiebaukasten zu kaufen und sie äußerten dann die Sorge, dass ich damit das Wohnungsinterieur beschädigen könnte. Dann gab es Lego-Technik-Spielzeug von meinem Onkel auf unserem Dachboden. Mehrmals fragte ich meine Eltern, meinen Onkel und meine Großeltern, ob ich dieses Spielzeug nicht haben könne, aber dieser Wunsch wurde beharrlich ignoriert. Sie sagten einfach gar nichts dazu.
Da meine Eltern keinen Sohn hatten, kann ich nicht beurteilen, ob ihm bezüglich des Chemiebaukastens und des Lego-Technik-Spielzeugs das gleiche Schicksal widerfahren wäre. Ich will meinen Verwandten auch gar keinen Vorwurf machen, ich meine nur, dass ein solches Ignorieren, sowohl von verbalen Äußerungen des Kindes, wie auch von bestimmten Verhaltensweisen, einen sehr effizienten Einfluss beispielsweise auf die spätere Berufswahl nehmen kann, dass es sich hierbei aber nur um sehr kurze und seltene Szenen in meiner Lebensgeschichte handelt.
Worauf ich damit hinaus will: Es können sehr vereinzelte und kurze Interaktionssequenzen zwischen Eltern und Kindern vorkommen oder eben NICHT vorkommen, die eine immense Auswirkung auf das weitere Leben oder viel später getroffene Lebensentscheidungen haben können. Und je früher diese Sequenzen vorfallen oder NICHT vorfallen, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sich ein dazu befragter Erwachsener noch daran erinnern kann.
Und da man unmöglich die ersten vier Lebensjahre von untersuchten Kindern (oder eben einen gewählten Zeitabschnitt, innerhalb dessen sich die Geschlechtsidentität herausbildet) komplett audiovisuell dokumentieren und auswerten kann, sondern immer nur einen vergleichsweise geringen Teil, ist die Chance statistisch gesehen relativ hoch, dass entscheidende Situationen eben nicht dokumentiert sind. Und selbst wenn solche Szenen dokumentiert sind, so bleibt der auswertenden Beobachertin/ dem auswertenden Beobachter weitgehend vorenthalten, wie tief der Eindruck ist, den bestimmte Vorfälle bei den beobachteten Kindern hinterlassen, welche genauen Gefühle sie auslösen, welche Erinnerungen sie daran behalten und welche Schlussfolgerungen für ihr eigenes Handeln sie daraus ziehen. Und mit Kindern kann man auch bedeutend schlechter, als mit Erwachsenen, solche Szenen später gemeinsam reflektieren, da sowohl Introspektion, als auch Reflexion Fähigkeiten sind, die erst im Laufe der Kindheit bis in die Adoleszenz hinein entwickelt werden (können).

Meine Arbeit an diesem Tagebuch kann man also nur verstehen als die Vor-Vorarbeit zu einer wenn überhaupt, dann erst in weiterer Zukunft stattfindenden umfassenden Erhebung und Analyse der Geschlechssozialisation. Es sind nichts weiter als ergebnisoffene Notizen einer geschlechtssensibilisierten Mutter, die versucht im Dickicht der Lebenswelt einzelne Fäden aufzunehmen und ihnen zu folgen, um wenigstens einen groben Eindruck davon zu bekommen, welche Meilensteine der Geschlechtssozialisation sie vorfinden kann.


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Dieser blog ist nicht der Ort für Grundsatzdiskussionen zu biologischen Determinismen von Geschlecht, zur Sinnhaftigkeit verschiedener Forschungsansätze oder des Feminismus.